Je jünger ein Mensch stirbt, desto größer lastet die Gewissheit der eigenen Sterblichkeit auf den Lebenden...
Spricht Anatheya leise, als sie durch die Tore des Friedhofs tritt. Und Gina Rotwild war noch jung, vielleicht genauso jung wie Anatheya selbst.

Eine Priesterin der Yahane kann den Gläubigen nicht helfen, gegen den Schmerz anzukämpfen, wenn sie selbst diese Schmerzen fühlt. Doch ein Priester ohne Mitgefühl ist nicht viel mehr als eine stumpfe Präsenz.

In ihrer linken Hand hält sie eine Kerze, deren kleine Flamme den Weg des Friedhofs nur schwach erhellt. Die rechte Hand hält die Schaufel auf ihrer Schulter fest. Anatheya hält ihr Wort. Aus ihrem Munde wird niemand erfahren, dass Gina Rotwild tot ist. Von ihr wird niemand auch nur irgendetwas erfahren. Sie wird selbst das Grab alleine schaufeln und auch die Hülle selbst betten. Und später, wenn die Zeit gekommen ist, wird sie den Grabstein alleine setzen.

Anatheya schreitet den Todesacker entlang.
Yahanes Reich wird von jedem angestrebt,
denn auch das Reich jedes anderen Gottes ist ihr Reich.
Dort ist sie und wird es immer sein.
All die Zeit.
Für immer und ewig.
Neben einem Grabstein bleibt sie stehen. "Der Tod erlöse dich von weltlichem Leid" steht dort in den Stein gemeißelt. Sie legt die Schaufel auf den Boden und hält ihre freie Hand über den Platz, der Ginas Grab sein wird.
Ob du auf der anderen Seite die gleichen Sterne wie wir siehst?
Ob du fühlst, wenn die Erde bebt?
Die Zeit ist unsere Meisterin und wir ihre Sklaven.
Du warst ein Moment in der Zeit,
du warst ein Augenaufschlag in einem Traum.
Doch keine Zeit berührt dich mehr,
nie wieder.
Yahane, lass dies ein Ort der Ruhe sein.
Lass dies der Ort sein, an dem jene junge Frau fern ihrer Schmerzen sein kann.

Nun stellt Anatheya auch die Kerze auf den Boden und nimmt die Schaufel zur Hand. Kein Trank und auch kein Gottessegen helfen ihr bei der Arbeit, das Grab auszuheben. Schweißperlen fallen in die aufgewühlte Erde. Dies ist nicht das erste Grab, das Anatheya aushebt. Und es wird auch nicht das letzte sein.
Wir sind hier, weil wir hier sind.
Sagt Anatheya leise, als ihre Arme beginnen zu schmerzen.
Doch sie gräbt weiter. Tiefer, immer tiefer in die schwarze Erde. Für einen Moment wünscht sie sich, ihr Ritter würde an ihrer Seite stehen und sie fragen, ob sie eine Pause machen will. Aber Anatheya ist alleine. Nur die Toten sind ihre Begleiter. Sie bedauert, Nedime bei ihrer Untersuchung keine eindeutigen Antworten geben zu können... aber es soll nicht sein.
Die Würmer kriechen im Grab. Jetzt ist es tief genug.
Sie geht zur Rastwache, um sich nach Hombert zu erkundigen. Als er Anatheya erblickt, scheint er schon zu wissen, was er zu tun hat.
Die beiden betreten den Tempel der Yahane, der noch immer wie ein Lazarett aussieht. Anatheya seufzt leise. Jetzt im Moment ist das nicht wichtig.
Der Raum der unzähligen Särge ist noch immer, wie sie ihn verlassen haben. Vorsichtig schieben Anatheya und Hombert Ginas Sarg vom Tisch. Um kein Aufsehen zu erregen, nehmen die beiden Sargträger den unterirdischen Weg. Ohne darüber nachzudenken öffnet Anatheya die Geheimtür. Es ist nicht wichtig, warum wir manche Dinge einfach wissen.
Am Friedhof der Rast gehen die beiden mit ihrer wertvollen Begleitung wieder an die Oberfläche. Als Ginas Körper im frischen Grab liegt, verabschiedet Hombert sich mit einem stillen Salut, nicht ohne vorher noch einen Blick auf den Sarg zu werfen.
Nach und nach verschwindet der Sarg in der Erde. Schaufel um Schaufel werden Ginas Überreste vom Boden geschluckt.
Vom Fleische zur Erde...