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Wurfgeschosse

Anatheya, Aspirantin der
Klagenden Schwesternschaft, Occlo
10. Januar 2012 13:24
Gebannt starrte Nikki auf das Phänomen. Man sah ja erstaunlich wenig Phänome - dafür, dass das hier ein Hort voller Priesterinnen, Hohepriesterinnen und Novizinnen war. Darum war man über alles froh, was nur ein bißchen anders war, nur ein kleines Bißchen.
Da war diese Frau, die noch nicht ganz 3 Jahrzehnte zählte und die schön völlig weisse Haare hatte. Ja, sogar die Haare auf ihren Armen waren weiss, aber sie war kein Rotauge. Hey, das war noch nicht einmal das Phänomen, denn an Anatheyas Anblick hatte sie sich schon längst gewöhnt.
Eh nein, Anatheya saß da und hielt eine dampfend heiße Kartoffel in der Hand, die frisch aus dem Topf kam. Und die schälte sie so langsam, so langsam. So langsam, dass Nikki beim Zuschauen ganz schläfrig wurde, aber irgendwie schaffte der Weisszopf es trotzdem, die meisten Kartoffeln zu schälen. Ein Phänomen!
Auch die Zeitspanne, bis sie auf Fragen antwortete, war meist quälend lang. Nikki wartete jetzt schon gefühlte fünf Minuten auf eine Antwort. Sie nahm eine frische Kartoffel und warf sie auf ihr Gegenüber. Die Kartoffel prallte an der weissen Stirn ab, fiel zu Boden. Zwei Sekunden später zuckte Anatheya zusammen wie eine Eule, die man am hellichten Tag weckte. "Wahnsinn", dachte Nikki grinsend.

Von güldener Farbe war die Kartoffel und von silbernem Dampf umhüllt wie von einem Schleier. Ein Wohlgeruch ging von ihr aus und es war nicht schwer zu erraten, wie gut sie schmecken würde. Es musste die besondere Erde der Insel sein, die solche Schätze hervorbrachte.
Einen kurzen Moment lang fühlte sie, wie hart Kartoffeln sein könnten, als ihr eine an den Kopf flog.
"Wann denn nun?", fragte Nikki ungeduldig, bereits das nächste Wurfgeschoss in der Hand.
"Wann was?", war die ruhige Gegenantwort.
"Ich bin ja schon eine Weile hier, wie du weißt. Ich hab' schon viele Neue kommen seh'n. Wenn sie zur Priesterin geweiht werden, werden sie allesamt so ernst und humorlos."
Anatheya hob einen Mundwinkel. Nikki gehörte zum Klostervolk und erledigte verschiedene Aufgaben, sie strebte jedoch keine Priesterweihe oder die Mitgliedschaft im Orden an. Anatheya hatte sie, es schien ewig lange her, vom Freudenhaus auf Buccs nach Occlo geschickt.
"Ich bin bereits geweiht."
"Nee, echt? Von wem?" Nikki war erstaunt. Anatheya war zwar nicht wirklich lustig, aber sie versuchte es wenigstens ab und zu. Wie eine Priesteirn wirkte sie irgendwie nicht.
"Von Yahniel."
"Unserer Yahniel?"
"Ja."
"Dann bist du also schon Mitglied im Orden?"
"Nein."
Seitdem die beiden Frauen sich wiedererkannt hatten, verbrachten sie viel Zeit miteinander. Und obwohl sie etwa gleich alt waren, hatte Anatheya irgendwie die Rolle der großen Schwester übernommen. Nikki hatte keine Hemmungen vor Anatheya. Bei anderen Mitgliedern sah es schon anders aus. Viele waren grundlos einschüchternd und eigentlich war Nikki zurückhaltend, auch wenn sie im Freudenhaus gearbeitet hatte.
"Und wann wirst du's?", hakte sie nach.
Anatheya seufzte unhörbar. "Wenn die Äbtissin mich für bereit hält."
"Ah. Achso."
Nikki widmete sich wieder der Kartoffel. Es würde nicht lange andauern, da käme die nächste Frage, das wusste Anatheya.
Nikkia war beneidenswert sorglos. Sie war noch eher ein Mädchen als eine Frau. Zur Frau wurde man nicht einfach durch Reife des Körpers und kein Freier der Welt könnte ein Mädchen zur Frau machen, egal was er tat. Selbst zwei Freier nicht. Erwachsen wurde man einzig durch die Erkenntnis, dass nicht nur man selbst eine begrenzte Zeit in dieser Welt hatte, sondern auch alles, was man liebte.
Die nächste Kartoffel. Irgendwie war Anatheya in Gedanken an zwei Freier versunken und hatte Nikkis nächste Frage nicht gehört. Sie errötete, wobei ihr Gesicht eher bläulich als rot wurde.
"Warst du oder nicht?", fragte Nikki beharrlich.
"Ich war was?"
"Na, verliebt."
Anatheya warf eine geschälte Kartoffel in die Schüssel.
"Ja, aber... das ist ziemlich lange her."
"Oh", schwärmte Nikki überrascht und legte verträumt ihr Kinn auf ihre Hände. Sie hielt immer noch ein Messer und eine Kartoffel darin.
"Das wäre ich auch gern. Weißt du, es ist nicht Liebe, wenn man dafür bezahlt wird..."
"Ja, das stimmt", pflichtete Anatheya ihr bei, ohne sich jemals Gedanken darüber gemacht zu haben.
"Wie war es so?"
"Ich wartete Tage, um ihn ein paar Stunden zu sehen und es war in Ordnung. Ich liebte alles, was er sagte. Ich brauchte ihn zum Leben. Ich konnte nicht ohne ihn. Ich habe mich selbst aufgegeben, um bei ihm zu sein.", erzählte die Priesterin - und es klang seltsam sachlich und distanziert.
"Ohhh, wie schön!", entfuhr es Nikki begeistert.
"Nein", sagte Anatheya kühl. "Man sollte niemanden brauchen. Man sollte jemanden wollen. Man geht gemeinsam ein Stück des Weges und wenn sich die Wege trennen, dann ist das kein Grund für Tränen. Wenn es sein soll, führen die Wege für eine Zeit lang wieder zusammen."
Ihre eigenen Worte trafen sie wie eine Kartoffel. Sie dachte an Skolden. Und in diesem Moment wurde ihr klar, dass ihre Gefühle noch immer die gleichen waren, auch wenn sie nicht einordnen können, welcher Art diese waren. Bei Camber waren es Aufopferung, Hoffnung, Bewunderung, Sehnsucht. Bei Skolden... sie wusste es nicht, aber sie hatte diese Gefühle. Der Gedanke daran, er könne in Stolzenforst vielleicht eine andere Frau lieben, schmerzte sie kein bißchen. Sie war sich ihrer eigenen Gefühle bewusst, ganz gleich, was er fühlen oder nicht fühlen mochte. Und sie war gegangen, ihre Wege hatten sich getrennt. Sie war fort und ihm keine Rechenschaft schuldig.
Diesmal fing sie die Kartoffel.
"Keine Fragen mehr, das Essen ist fertig", Anatheya nahm die Schüsseln und Nikki war es, als zwinkere ihr der Weissschopf im Vorbeigehen leicht zu.
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Anatheya, Aspirantin der
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33210. Januar 2012 13:24



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