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Das Getreidefest

Anat Eichwald
29. Juli 2021 12:10
Täler grünen, Hügel schwellen, buschen sich zu Schattenruh, und in schwanken Silberwellen wogt die Saat der Ernte zu.

– Goethe







Es war lange kalt und nass dieses Jahr gewesen. Endlich ist es sommerlich warm. Das wäre auch zu erwarten, denn nun bewegt sich die Sonne durch das Tierkreisbild Löwe: den Alten galt der Löwe als ein Feuerzeichen. In den lauen Nächten blinken nun die Glühwürmchen auf den Wiesen; die Blüten des rankenden Waldgeißblatts verströmen ihren betörenden Duft und in der Ferne flackert ein Wetterleuchten.


Tagsüber ziehen dicke Quellwolken über den Himmel, Bremsen plagen das Weidevieh, bunte Schmetterlinge flattern von Blüte zu Blüte und im Gebüsch und Gras zirpen Grillen und Heuschrecken. In dieser Zeit tut es mir gut sich von den Mauern des Klosters zu verabschieden und in diese Naturwunder einzutauchen.

Die kosmische Wärme nährt die allmählich reifenden Trauben, die Früchte und Samen. Die wilden Stämme sagen, das Singen der Vögel und der auf- und abschwellende Gesang der Zikaden und anderer Insekten unterstützt den Reifeprozess. Inzwischen gibt es botanisch-alchemistische Untersuchungen, die andeuten, dass da etwas dran sein könnte.

Erntemonat“, „Schnittmonat“ oder „Ernting“ nannten unsere Vorfahren den Octamond, denn nun beginnt die Kornernte. Das Getreideerntefest, eines der ältesten bäuerlichen Feste, hat seinen Ursprung im Aeon der Götter. Die Feldfrüchte galten den ersten Bauern als Kinder der Mutter Erde, die Kinder Caihumes. Die Erdgöttin trauert um sie. Sie erscheint uns als die ursprüngliche Mater dolorosa, die leidende Mutter, die versöhnt werden muss.

Stellenweise heute noch, bis an dem Rande unserer Neuzeit, glaubt das Landvolk, dass ein Wachstumsgeist, ein „Fruchtbarkeitsdämon“, im Feld sein Wesen treibt. Es ist der „Kornwolf“, der Bullkater, der Korn-Bock, der Korn-Bär, der Korn-Eber, der im wogenden Getreidefeld seine Bahnen zieht. Oder es ist die Kornmutter, die manchmal als eine in Weiß gehüllte Frau erschien; es ist die „Alte“, die das Korn beschützt und die Bauern prüft. Böse Zungen sagen es sei die finstere Hekate, die die Trauer und Ausbeutung ihrer Mutter rächt.

Und so gehen die Caihumepriester als Korn-Priester – sie tragen weiße Gewänder und ihre Haare lang und verfilzt – deren Aufgabe ist es, kurz vor der Ernte das Korn zu segnen, indem sie in den vier Ecken des Feldes einige Ährenhalme schneiden und grüne Zweige oder Arnika stecken. Das soll verhindern, dass der Kornwolf das Feld verlässt. Bilwisse („diejenigen, die Wundersames wissen“) werden diese Priester in Yew genannt. Auch soll dies verhindern, dass Dämonen nachts das Getreide schneiden und seltsame Muster darin hinterlassen.

Dann geschieht die Ernte wie folgt: Die Männer mit Sensen mähen durch das reife Kornfeld; die Frauen folgen und binden die Garben. Der Wachstumsgeist flieht vor den Schnittern. Zuletzt, in die Ecke getrieben, sucht er Zuflucht in der letzten Garbe. Diese würd mit Blumen geschmückt – sonnengelbe Kräuter, weiße Feldkamillen, rote Kornraden, blaue Kornblumen, roter Klatschmohn – und, unter Jubel, auf dem Erntewagen zu Ehren Caihumes in das Dorf gefahren. Dann wurde ausgiebig die Ernte gefeiert und Caihume gedankt. In Wirklichkeit ist der Geist des Wachstums aber nicht nur Caihumes Wirken- es ist Murranagh und auch er gehört versöhnt.

Das Erntefest ist ein Fest des Feuers. Überall auf den Höhen lodern daher mächtige Feuer. Im Jahreskreis liegt diese Feierlichkeit diametral dem Fest des Lammfestes gegenüber. Ein Fest des Wassers; Eis und Schnee schmelzen und die Samen keimen. In den heißen Tagen des Octamond dagegen, verwandelte sich der schöne, junge Naturgott Murranagh in seinen feurigen, strahlenden Aspekt um, dem „Meister aller Künste“, dem „Löwe mit sicherer Hand“, der das Gewordene zum Verblühen, Versamen und zur Auflösung in eine geistige Dimension hinführt; er stellt das Prinzip der Vollendung und der Erfüllung des Schicksals dar. Er ist das unbändige Feuer, das den Stahl härtet, die Hitze, die dem Obst, den Beeren und Früchten Reife und Süße schenkt. Den Getreidekörnern nimmt er die Milchreife und verwandelt sie in feste, goldene Kerne. Das mondhafte, fleischige Grün der Kräuter macht er mit seinem Feuerhauch zu fein gefiederten, duftenden Gebilden; er reichert sie mit heilkräftigen, ätherischen und fettigen Ölen, Balsamen und Harzen an. Er ist auch der Terminator, der korrupten Herrschern und Lügenmeistern ihren verdienten Tod bringt. Dieses Erntefeuer ist seine Hochzeit mit Caihume, der Muttererde mit dem Füllhorn, der Kornmutter, der Ernährerin der Welt.



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Das Getreidefest

Anat Eichwald12529. Juli 2021 12:10



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