Wieder einmal war es Abend im Torkelnden Greifen geworden und Oria saß allein im trüben Dämmerlicht vor ihrer zweiten Flasche Schnaps. Es war ein ereignisloser Tag gewesen, denn die Frau in Grün hatte sie wie immer öfter in letzter Zeit nicht zuhause angetroffen. Nun, eine kleine Pause von der ständigen Jagd konnte ihr nur guttun.

Oria nahm noch einen kräftigen Schluck aus der Flasche und seufzte zufrieden. Wie weit sie es doch gebracht hatte! Die Palisaden waren hoch und spitz und die Gildenkasse ebenso wie das Schnapslager prall gefüllt. Was wollte man mehr!
Das war nicht immer so gewesen, nein, ganz und garnicht. In jüngeren Jahren hatte sie sich als Gardistin beim Handelskontor Afira verdingen müssen. Gildensitzungen galt es zu bewachen, Patrouillengänge zu absolvieren und zu guter Letzt war da der nicht enden wollende Hunger der Schneider nach verschiedensten Ledern gewesen. Ständig wurde sie ausgesandt, um noch mehr Leder herbeizuschaffen...

Aber nichtsdestotrotz war es eine gute Zeit gewesen. Hier hatte sie ihre erste eigene Rüstung bekommen, und Waffen und Schilde obendrein. Sie hatte sich sehr mächtig gefühlt. Und die Mitglieder des Kontors waren alle sehr nett. Vielleicht auch etwas naiv und weltfremd, aber das konnte Oria egal sein. Ihre Aufgabe war es, die Gefahren der Welt von den Handwerkern abzuhalten, damit diese ihrer Arbeit nachgehen konnten. Überhaupt konnte sie froh sein, so bald nach ihrer Flucht aus Britain eine neue Heimat gefunden zu haben.

Lange Jahre hatte sie es in der Armee von Britain ausgehalten. Täglich Dienst und Drill, sadistische Vorgesetzte, die keine eigenen Gedanken duldeten und dann die Kameraden. Allesamt Männer, die von Anbeginn an auf sie herabgeschaut hatten. Dabei stand sie hinsichtlich ihrer Leistung den Männern in nichts nach, eher im Gegenteil, denn manche übertraf sie in Ausdauer und Geschick mit den Waffen. Das hatte ihr neben der allgemein üblichen Missgunst nur mehr Neider eingebracht. Aber Oria hatte es ertragen, hatte die giftigen Blicke und hämischen Kommentare ausgehalten, denn Kämpfen war das einzige, was sie gut beherrschte, und sie musste Geld für ihre Familie aufbringen. Seit ihre Mutter gestorben war und ihr Vater vom frühen Morgen an nur noch trank war es an ihr, für ihre jüngeren Geschwister zu sorgen. Orias Sold reichte dafür gerade so aus; sie selbst gönnte sich nur das Allernötigste.

Die Jahre gingen ins Land, und Orias Geschwister wurden auch älter. Oria tat ihren Dienst, versorgte damit die Familie und verfeinerte immer weiter ihre Kampffertigkeiten. Bis ein Tag alles änderte. Ein neuer Spieß wurde ihrer Einheit zugeteilt, und zu Orias Unbehagen hatte er Gefallen an ihr gefunden. Stets wehrte sie seine Avancen kühl und reserviert ab, doch das stachelte seine Gier nur noch weiter an. So weit, dass er sie eines Nachts vergewaltigen wollte. Oria hatte noch heute seinen übelriechenden Atem in der Nase und sah das Messer, mit dem er ihr Gesicht zerschnitt, als sie sich wehrte. Schließlich konnte sie ihrem Peiniger das Messer entwenden und stach es ihm mitten ins Herz. Einige Sekunden später war er tot und Oria stieß ihn von sich. Sie war ruhig und überlegt und ließ sich nicht von einem kurz aufflammenden Gefühl der Panik mitreißen. Sie musste ins Ausland fliehen, so viel war klar, sonst drohte ihr wegen Ermordung eines Vorgesetzten die Todesstrafe!

Nachts schlich sie durch die Wälder, tagsüber ruhte sie, und als sie schließlich die Grenze hinter sich gelassen hatte und freies Bundland unter ihren Füßen hatte, war sie überglücklich. Ihre Geschwister waren inzwischen alt genug um sich selbst zu versorgen, und für sie würde nun ein neues Leben beginnen.

Inzwischen war auch die zweite Flasche Schnaps leer und Oria atmete tief durch. Sie hätte noch mehr trinken können, doch sie zügelte sich. Zwei Flaschen waren genug, sie war ausreichend betrunken, um hinüber ins Schlafzelt zu wanken und in einen erholsamen und traumlosen Schlaf zu versinken.