Willkommen! Anmelden Registrierung bei TheOldworld

Stumm

Lias Gutseel
31. Januar 2022 19:21
Episode I

Lachend stob Agna durch das Federvieh, das wild gackernd in alle Richtungen auseinanderflatterte. Fast hatte Lias sie erreicht, doch seine Schwester war schnell – kleiner als er, dabei aber geschwind wie ein junges Reh. Kurz bevor er sie am Hemdzipfel packen konnte, entwischte sie ihm und gab ein triumphierendes Lachen von sich, das sein Herz zum Schwingen brachte. Wenn sonst keiner für ihn da war – Agna war es, das war gewiss.
„Ich gebe auf!“, rief er keuchend. Seine Schwester, die sich bereits einen Vorsprung von mehreren Schritt erarbeitet hatte, machte kehrt und grinste ihn triumphierend an. Das aschblonde Haar hing in schmutzigen Strähnen ihre Schultern herunter. Auch auf ihrer Nase hatte sich etwas verkrustete Erde angesammelt, was er mit einem amüsierten Lächeln quittierte. Außer Atem ließen sich beide nebeneinander auf die von zahlreichen Schnabelstichen durchpflügte Wiese neben dem Hühnerschuppen fallen. „Warte mal, Agna“, sagte er und beuge sich zu ihr hinüber. Vorsichtig wischte er mit dem Daumen den Dreck vom Nasenbein seiner zehn Lenze alten Schwester, die ihn aus grüngrauen Augen schelmisch anblinzelte.
„Lias“, ertönte die Bariton-Stimme seines Vaters Ulaf aus der Schmiede. Seufzend drückte Lias sich vom Boden hoch und warf Agna einen entschuldigenden Blick zu. Sie sah zur Seite. Er zählte zwölf Sommer; Seine Lehrzeit in der Schmiede hatte begonnen. Die Zeit des Spiels und der Ausgelassenheit näherte sich dem Ende. Heiße Luft schlug ihm entgegen, als er sich dem Feuer näherte, an dem sein Vater gerade mit der Zange ein Stück Eisen erhitzte.

Episode II

Agna stand am Eingang der Schmiedewerkstatt und beobachtete heimlich Lias, dessen Oberarmmuskeln sich deutlich unter der Haut abzeichneten, während er verbissen ein Stück rotes Eisen mit dem Hammer bearbeitete. Rhythmisches Klopfen, begleitet vom ebenso rhythmischen Pfeifen des Blasebalgs, dessen Klang sie an das angestrengte Atmen eines Schwindsüchtigen in seinen letzten Zügen erinnerte. Sie liebte diese Geräusche, sie liebte die Hitze; sie liebte es, Lias zuzusehen, dem das halblange, verschwitze Haar strähnig in die hellgrauen Augen hing, die kantigen Kiefer fest aufeinandergepresst.
Das war die eine Seite – die andere Seite sah sie des Abends, wenn er am Dorfplatz mit jungen Frauen zusammenstand, die schmalen Lippen zu einem süffisanten Lächeln verzogen, herablassend, selbstsicher. Sie selbst blieb im Schatten, hinter einer Häuserecke, beobachtend, abschätzend. Er tat es wieder: Er imitierte einen Adeligen, das Lachen der Umstehenden genießend, treffsicher den richtigen Ton anschlagend. Lautes Kichern ertönte, als Lias einen imaginären Krückstock nahm und den Gesichtsausdruck des griesgrämigen Junkers mit hängenden Mundwinkeln und zusammengekniffenen Brauen übertrieben, doch unverkennbar genau kopierte.
Agna wandte sich ab, die Häuserecke umrundend, bis das Kichern hinter ihr verklungen war. Sie biss sich auf die Lippe. Alles würde ihm gehören, die Schmiede. Die Zukunft. Und er wagte es, andere zu beschmutzen. Um einiger Lacher Willen? Für die schmachtenden Blicke dummer Gänse? Auf halbem Weg Nachhause schlug Agna eine andere Richtung ein. Im Tempel würde man Rat wissen.

Episode III

Lias wälzte sich auf der mit Stroh gefüllten Matratze herum; es war am Vorabend recht spät geworden und ihm stand ein weiterer ebenso langweiliger wie anstrengender Tag in der Schmiede hervor. Ein weiterer austauschbarer Tag wie der davor und der davor und vermutlich der heutige und der morgige auch. Er wollte sich gerade ein letztes Mal umdrehen, als ein energisches Klopfen an der Tür ertönte. „LIAS GUTSEEL?“ Das konnte nichts Gutes bedeuten. Mit einem Mal hellwach schwang er seine Beine auf den Boden und zog sich vom Bett hoch. Statt sich zu waschen, sprenkelte er nur etwas Wasser aus dem Eimer ins Gesicht und zog kurzerhand die rußige Schmiedeschürze über, um einen halbwegs respektablen Eindruck zu machen, bevor er mehr oder wenig eilig zur Tür schlurfte. Es klopfte erneut. Noch einmal atmete er durch, dann zog er die Tür mit einem Ruck auf, so dass die Faust des Klopfenden ins Leere traf. „Ja?“, fragte er, eine Braue hochziehend. Das dünne Lächeln verschwand von seinen Lippen, als er in die Augen der beiden Gutsknechte sah.

Episode IV

Der Mohnsaft vernebelte seine Sinne. Schemenhaft nahm er durch den Stoff der Augenbinde den Heiler neben sich wahr, der bereitstand, um die Wunde zu behandeln. Er besaß die Kraft nicht mehr, sich selbstständig aufrechtzuhalten – in den letzten 50 Stunden hatte er kein Auge zugetan. Das war allerdings auch nicht notwendig, denn ein Seil, das um seine Brust gebunden war, fixierte ihn an der Rückenlehne des Stuhles, auf dem er saß, und hinderte ihn am Vornübersacken. Seine Hände waren dahinter zusammengebunden. Die Schürfwunden an den Gelenken nahm er ebenso wenig wahr wie die halb ertaubten Finger oder die endlose Litanei des Gerichtsdieners, der seine zahlreichen Verfehlungen in einem monotonen Singsang vortrug.
Seine Aufmerksamkeit, oder das, was davon übrig war, galt dem Henker, der verschiedene Zangen mitgebracht hatte, von denen er gerade eine auswählte. Sie sahen ganz ähnlich aus wie jene, die sie in der Schmiede gebrauchten. Sein Körper zitterte. Erst in kleinen, sanften Wellen, dann in immer größeren Zuckungen, die seine Zähne klappern ließen. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Sein Körper, noch unversehrt, bis auf die zahlreichen Quetschungen und Prellungen, die man ihm hier zugefügt hatte. Er schloss die Augen. Der Körper gehörte nicht länger ihm. Er gehörte ihnen.
Die grobe Hand des Henkers umfasste seinen Kiefer und presste den Mund auseinander. Ein letztes Beben durchlief ihn von der Kopfhaut bis zu den Schenkeln, als das kalte Eisen seine Zunge packte und sich in einem einzigen schrillen Schmerz hineinverbiss, der als brennende Flamme seinen Hals hinab- und den Kopf hinaufstob, wo die Welt in einem grellen Lichtblitz explodierte und ihn mit in unendliche Schwärze nahm.

***

Worte versiegen

Worte versiegen

Die einst sprudelten und sprühten
Hervorquollen und glühten
Und farbenprächtig blühten

Worte versiegen.

Die einst eiferten und lachten
Mehr Licht ins Dunkel brachten
Und Trübes klarer machten

Worte versiegen.

Die immer leiser sangen
Vereinzelt und befangen
Bis sie still verklangen

Versiegen.

***

Episode V

Lias stand an der Reling des Segelschiffes und blickte aufs weite Wasser hinaus. Vor seinem inneren Auge erschienen noch einmal all die Menschen, die er in Alrynes zurückgelassen hatte, als das Schiff am frühen Morgen abgelegt hatte. Seine Mutter Mina mit ihrem Federvieh und seinen Vater Ulaf; beide hatten nicht viele Worte verloren. Was gab es auch schon zu sagen. Ihm selbst war das ohnehin nicht mehr möglich – mit einer halben Zunge konnte er nur noch unverständliche Laute von sich geben. Seine Eltern konnten es sich nicht leisten, ihn weiter zu unterstützen – in ihrem Dorf war er nun geächtet. Keiner kaufte die Schmiedewaren seines Vaters, solange er bei ihm unter einem Dach wohnte. Und Agna … Oh, Agna. Nicht einmal in die Augen blicken konnte sie ihm mehr, so sehr hatte er sie enttäuscht. Lebwohl, kleine Schwester, sagte er im Gedanken, das grüngraue Wasser betrachtend, bevor sein Blick weiter zum fernen Ufer glitt. Rahal.
Ein neuer Anfang.


Episode VI

Graue Bilder, die in einander verschwammen. Zangen, in verschiedenen Formen und Größen, ordentlich nach Länge sortiert. Eisen, das sich in seinem Mund kalt und hart anfühlen würde. Widerlich metallischer Geschmack, gefolgt von explodierendem Schmerz. Ein Schmerz, der geschehen würde, egal was er auch tat. Lias wollte aufspringen, er wollte schreien – und konnte nicht. Der Moment war unausweichlich, der Moment, in dem der Henker sein Kinn packen würde und …
Schweißgebadet wachte er auf. Einige Sekunden lang blieb er so liegen, wie eingefroren, das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Fratze erstarrt, die Hände verkrampft, auf den Erdboden unter sich festgenagelt. Er lauschte dem Klopfen seines Herzens, das noch immer raste. Seine Gesichtszüge entspannten sich allmählich; er fühlte die Nässe darauf. In einem Ritardando verlangsamte sich das Pochen unter seiner Brust zu etwas hektischen, aber gleichmäßigeren Schlägen.
Jede Nacht das Gleiche, immer und immer wieder. Manchmal tauchte seine Schwester Agna in seinen Träumen auf; doch selbst dort blieb er stumm, und bevor er sich anders bemerkbar machen konnte, war sie schon aus seinem Blickfeld verschwunden. Er hatte auf einem Bauernhof als Knecht angeheuert; allzu herzlich hatte ihn die Bauersfamilie in ihren Kreis aufgenommen. Der gutherzige Bauer Lingor und seine Tochter, die kleine und fast blinde Smulla. Wie gerne hatte er seine Späße mit ihr getrieben und ihr pantomimische Rätsel gestellt. Ihr Lachen besaß die Macht, all die bösen Geister für einige Minuten zu vertreiben. Es waren kurze Lichtblicke in einem grauen Nebel, der ihn ständig zu umgeben schien und alle Freude schluckte. Er tat sein Bestes, die Arbeit gut zu machen, doch immer wieder unterliefen ihm Fehler – manchmal war da nichts als Leere im Kopf, all sein Wissen wie weggeblasen. Er spürte, wie sich Lingors missbilligende Blicke in seinen Rücken bohrten. War es Einbildung? Spielte das eine Rolle? Er war ein schlechter Knecht. Schlimmer noch, er begann Hühner zu hassen. Das Federvieh auf Lingors Hof hatte ihn an sie und an sein altes Zuhause erinnert, das ihm so fern erschien, dass er sich manchmal fragte, ob er dieses Leben wirklich einmal gelebt hatte. Er hatte diesen Anblick eine Weile stoisch ertragen. Schließlich hatte er es nicht anders verdient. Es war ein süßer Schmerz. Doch Tag um Tag wurde es schlimmer – ihr dämliches Gegacker! Er wollte jedem dieser blöden Viecher den Hals umdrehen, auf dass sie endlich Ruhe gaben.
Vorsichtig reckte er seine Glieder. Mit der linken Schulter hatte er offensichtlich auf einer Wurzel oder einem Stein gelegen. Unter leisem Stöhnen richtete er sich auf und begann, die verspannte Stelle mit der rechten Hand zu massieren. Dann schlurfte Richtung Bach, um sich dort zu waschen – das Gebüsch, hinter dem er sich für die Nacht zum Schlafen niedergelassen hatte, strafte er mit einem letzten Blick der Verachtung. Lustlos schaute er auf seine verdreckten Kleider hinab, die ebenfalls eine Wäsche nötig hatten. Oder auch nicht. Was machte es für einen Unterschied?
Mit etwas Wehmut dachte er an das weiche Bett bei Lingor; nie zuvor hatte er solch ein schönes Zimmer sein Eigen genannt. Doch dort hatte er nicht bleiben können. Er war ein schlechter Knecht. Er ertrug die Enttäuschung genauso wenig wie den ständigen Anblick der Hühner, die ihn an Dinge erinnerten, die nicht sein durften.
Mit zusammengepressten Lippen spritzte er sich das kalte Wasser aus dem Bachlauf ins Gesicht und dachte darüber nach, wie er den Tag, der gerade begonnen hatte, möglichst schnell hinter sich bringen konnte.

Episode VII

Diese Augen. Hätte er doch nie den Maskenball besucht. Er war unsicher gewesen, ob er gehen sollte. In alten Tagen, ja, da hatte er nur zu gerne getanzt. Damals, als er noch eine Stimme besessen hatte. Damals, als Mädchen sich nach ihm umgedreht hatten. Einen Abend nur hatte er seinem Ich entfliehen wollen, es hinter einer Maske verstecken und alles vergessen. Und vergessen hatte er alles.
Die Rabenmaske mit dem langen Schnabel fest vors Gesicht gebunden und in seine verlotterten Lumpen gekleidet, die auf dem Maskenball fast wirkten wie ein stilechtes Vogelkleid, war er den Klängen der Musik gefolgt und hatte sich in vermeintlich sicherem Abstand auf einer Bank niedergelassen, von der aus er die tanzende, ausgelassene Gesellschaft beobachten konnte. Versonnen hatte er dem Barden gelauscht, als ihn plötzlich eine Stimme von der Seite ansprach. „Ich dachte schon, ich wäre hier der einzige Rabe“, das hatte sie gesagt. Und ihn aus grünen Augen hinter schmalen Schlitzen angeblickt, als hätte sie nur auf ihn gewartet. Warum nur. Nun saß sie in der Stadt und wartete wirklich auf ihn und er wusste ganz genau, dass sie wartete, sie wartete!
Unruhig lief er zwischen kahlen Bäumen herum, den geflickten Mantel fest um sich gezogen, doch nahm er den kalten Winterhauch kaum wahr. Der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln. Mit jedem Knirschen wurde sein Entschluss fester. Wie von selbst führten ihn die Schritte Richtung Bajarder Hafen, während seine klammen Finger bereits nach den letzten Goldstücken in der Tasche tasteten.
ThemaAutorAngesehenDatum/Zeit

Stumm

Lias Gutseel17131. Januar 2022 19:21

Grabesruhe

Lias Gutseel8014. Februar 2022 22:31



Aktive Teilnehmer


15 : 0 15 Gäste