Willkommen! Anmelden Registrierung bei TheOldworld

Buch I, Kap. 2, Teil 2 - Von den Aspekten

Wu'feiniel Rodwen
23. März 2013 01:09
Als Wu'feiniel ins Freie trat konnte sie über die blumenverwöhnte Wiese hinweg den grauelfischen Krieger an der nahen Küste stehen sehen. Die gesamte Stadt war nach Osten hin einzig vom Meer begrenzt. Erst jetzt fiel ihr auf, daß Edhilweth diesmal keine Rüstung trug. Das also hatte sie vorhin stutzig gemacht. Er war gehüllt in eine Art Stoffgewand, das über der Hüfte verschnürt und an Arm und Bein weit geschnitten war. Zwar hatte es den leichten Glanz feiner, in Hellblau gehaltener Seide, doch fehlten übermäßige Verzierungen oder Muster und ließ es somit recht nüchtern erscheinen.
Als sie auf ihn zuschritt, löste sich sein Blick vom Meereshorizont. Er wandte sich ihr zu und deutete mit der Rechten neben sich. Dann hockte er sich selber ab und setzte sich auf seine Unterschenkel, ausgerichtet auf das Meer, von dem ein kühlender Wind an sie herangetragen wurde.
Sie versuchte, es ihm gleichzutun, dabei darauf bedacht, daß ihr Kleid keine unnötigen Falten warf oder sie sich umständlich darin verheddern konnte. So saßen sie eine Weile da und sannen schweigend in die Ferne hinaus.

"Ihr sagtet mir einst, naur habe Euch ergriffen, Euch Eure Sinne geraubt.", begann er in ruhigem Ton, nachdem er ihr den Blick zuwandte, "Doch es war nicht das naur, das dies vermochte. Ihr ward es selbst. Eure Furcht vor Eurer Kraft raubte Euch die Sinne, ließ Euch zornig darüber werden und nahm Euch somit jede Chance, richtig zu handeln. Dies ist eine Phase, durch die jeder mehr oder weniger gehen muß. Aus ihr könnt Ihr vieles über Euch selbst erfahren und beginnen, daraus zu erwachsen.", er hob etwas den Kopf und verfolgte mit den Augen den Zug vereinzelter Wolken. Immer wieder entstanden so Momente des Schweigens. Ein Aufatmen der Bedeutungen, die davon eingefasst waren.
"Ich will es Euch erklären, wie auch ich es gelehrt wurde. Doch keine Sorge, wir werden uns später dann Schritt für Schritt darin üben.", er richtete sich im Sitzen weiter auf und legte die Hände im Schoß zusammen. Egal was er sagte, es klang, als spräche er von einer alten Leidenschaft, in deren Erinnerungen er sich verfingt und die er so vor sich hin zitierte.
"Das Vorrangigste um Euch auf Euren Pfad zurückzuführen wird sein, daß Ihr Euer inneres Gleichgewicht erlangt. Ihr müßt im Einklang mit Euch selbst sein, ehe Ihr Einklang mit der Euch umgebenden Welt erreichen könnt, Einklang mit der Kraft der Magie.
Es wird Euch sicher nicht überraschen, daß uns hierbei auch die Elemente helfen werden, um die Ihr längst wisst und die Euch in Eurem bisherigen Wirken stets begegneten. Die erste Stufe wird sein, die Grundlage der Elemente auch in Euch zu finden, sie zu verfolgen und so in die Tiefen Eurer Selbst vorzudringen, bis Ihr Euch davon wieder lösen könnt. Schritt um Schritt löst Ihr Euch so von den ersten Stufen und erlangt eine höhere.", er wandte sich im Sitzen um und deutete in Richtung der Stadt. Zwischen den Gebäuden lag der Blick frei auf das große Tor, das sie von der Außenwelt abschirmte.
"Wenn ich auf dieser Mauer dort wache, so nutze ich die Treppe um auf sie zu gelangen. Doch bin ich einmal dort oben, hört die Treppe für mich auf, zu existieren. Sie ist da oben nicht mehr von Bedeutung. So ist es ebenso mit den einzelnen Aspekten des Lebens.", dann wandte er sich wieder zurück und saß aufrecht da, in die Ferne hinausgerichtet und auf jede unnötige Bewegung verzichtend.
"Ihr werdet verstehen lernen.
Ihr tragt wie jedes Lebewesen viele Aspekte in Euch, und zwar die Aspekte des Lebens selbst. Doch nur den alten Völkern ist es zueigen, zu höheren, reineren Formen zu finden, während eine primitivere Kultur nur die unteren Aspekte zu verwirklichen vermag, so es überhaupt danach strebt.

Der erste Aspekt stellt das Überleben dar und wird auch am besten durch cae (Erde) verdeutlicht. Es bildet die Substanz, den festen Grund, ja die Sicherheit. Ihr müßt damit beginnen zu verstehen, daß es das Grundlegendste darstellt, überleben zu wollen und dazu gehört vor allem, sich Bereiche von Sicherheit und Schutz zu schaffen. Wenn also cae eine Eigenschaft besitzt, so ist es diese. Die Erhaltung der eigenen Art ist die Form des Überlebens, die alle Lebewesen miteinander teilen - sie ist nicht zu verwechseln mit Nächstenliebe.
Die gegenläufige Wirkung wird durch Angst erzeugt. Nur die Furcht nährt den ewigen Zweifel und läßt jede Art der Sicherheit dahinschmelzen. Die Furcht vor Gefahr, die Furcht vor dem Verlust des Überlebens. Erkennt Eure Angst, akzeptiert sie als einen wesentlichen Teil von Euch, versteht, dass sie es ist, die Euch auch weiter aufstreben lässt und lernt so, sie schließlich zu überwinden. Erst dann seid Ihr bereit für den nächsten Schritt.

Der Folgeaspekt ist das Bedürfnis, Freude erleben zu können. Was wäre das Leben ohne die Phasen der Unbeschwertheit und die Lust in all ihren Formen? Wenn das Überleben als gesichert gilt, haben wir den Drang uns auch daran zu erfreuen. So sprudelt es in uns hervor, durchströmt uns und beschwingt unser Gemüt. Ihr werdet erkennen, warum also nen (Wasser) für diesen Bereich in uns steht, welcher den Fluß des Lebens aufzeigt.
Gehemmt wird die Freude durch zehrende Gefühle der Schuld, so daß wahre Freude sich nur jenen offenbaren kann, die völlig frei davon sind. Ihr müßt Euch Eurer Schuld offen entgegenstellen und lernen, Euch selbst vergeben zu können. Dann seid Ihr in Eurem wohlwollenden Ansinnen bald von jeglicher Schuld befreit. Manchmal ist es einfach nötig, Leben zu nehmen, um sich weiteres Leben entfalten zu lassen. Ihr dürft Euch nicht ewig dafür grämen.

Der nächste Aspekt ist die Kraft des Willens, die uns voranstreben läßt, so daß wir mehr aus uns zu machen wünschen, als wir sind. Es ist die ewige Glut, die in uns schwelt und uns vorantreibt. Tatkraft und auch Wissensdurst werden von ihr ebenso erzeugt, wie Unbeugsamkeit und Zieleverfolgung. Ihr werdet ahnen, daß dies als naur (Feuer) in uns allen wohnt und stetig lodert, ohne uns dabei zu verzehren.
So ist Scham die Kraft, die ihr Entfalten hindert und fehlleitet. Schämt Euch nicht Eures aufbegehrten Willens, ein Leben zu schützen, indem Ihr unzählige andere dafür auslöschtet. Dies war kein primitiver Impuls fern Eures Verstandes, dies war eine bewußte Entscheidung und Ihr habt Euch ebenso entschieden, jedwede Zweifel daran beiseite zu schieben. Auch diese Seite an Euch müßt Ihr gänzlich annehmen, wenn Ihr in Eurer Entwicklung fortschreiten wollt.

Als weiterer Aspekt folgt nun die tiefempfundene Liebe. Die Liebe, welche Ihr Eurem Volk gegenüber fühlt, die Liebe, die das Leben selbst in Euch erzeugt, ja sogar Formen der Liebe, die Ihr selbst bisher nurmehr erahnt. So erfüllt uns Liebe selbst in den alltäglichen Dingen mit einer Art der Leichtigkeit, wie sie nur dem Element gwilith (Luft) entspräche. Sie ist dabei nicht nur flüchtig und rasch, sondern durch ihre Stetigkeit ebenso stark, allgegenwärtig, lebendig und niemals gleich, da sie auch in ständiger Bewegung ist. Aus ihr entspringen ebenso andere Formen wie Selbstlosigkeit und Anteilnahme.
Die Entfaltung einer Liebe wird jedoch gehemmt durch Kummer. Und Kummer als langgehegter Zweifel läßt Euch nicht jene Leichtigkeit von gwilith verspüren, um die Ihr Euch so nur vergeblich müht. Erkennt dies in Euch selbst, benennt es, befreit Euch davon und Ihr werdet voranstreben können.

Ein weiterer Aspekt ist das Streben nach Wahrheit. Dies gilt zunächst für das Wissen. Nur das Kennen von Wahrheiten erschafft uns eine weitere Form der Sicherheit, die sich als Gewissheit offenbart. Doch mehr noch als eine allgemeine Wahrheit, ist vor allem auch die eigene Wahrheit in uns selbst gemeint und damit die Wahrheit in den Aussagen, die wir machen. Nur so können wir auch Gewissheiten außerhalb von uns selbst erst wirklich annehmen. Das Wissen als Baustein unserer Entfaltung wird durch angol (Magie) selbst repräsentiert, die der Urstoff der anderen vier Elemente ist. Erst durch das Wissen erhalten die bisherigen Aspekte einen höheren Sinn.
Wie Ihr vielleicht ahnt ist damit die Gegenwirkung der Wahrheit jene der Lügen. Als schlimmste aller Lügen gelten jene, die wir uns selbst als Wahrheiten glauben machen wollen. Dies zu erkennen ist bereits der Pfad zur Wahrheit selbst. Doch erfordert es bis dahin unzählige Übungen und vor allem ein geduldiges Studium.

Nun folgt der Aspekt der Einsicht: All das Wissen nützt nicht, wenn es sich nicht in Erkenntnis niederschlägt. Sie bildet die Essenz zur Weisheit und führt Erfahrung, Wissen und Voraussicht zusammen. Ihr habt die fünf Elemente, doch wären sie nicht von höherer Bedeutung ohne den Geist, der sie auch eint. So ist auch Euer Geist der Aspekt, der über denen der Elemente steht, aus welchen er jedoch erst hervorgehen muß.
Um dies zu erreichen muß er vor allem losgelöst sein von Neid und Illusion. Neid selbst liegt dabei einer Illusion zugrunde: Der Illusion, daß anderen etwas Besseres zukommt. Aber auch die Illusion, daß andere etwas kontrollieren könne, das man selbst nicht mal im Ansatz beherrscht. Die Kontrolle selbst ist dabei sogar die größte aller Illusionen. Das gilt vor allem auch in der Magie, wie Ihr noch feststellen werdet.
Hier angelangt beginnt Ihr auch, die vorigen Aspekte erneut aufzugreifen und neu zu erfassen. So sind zum Beispiel viele der Wahrheiten, an die Ihr Euch klammert, fast ausschließlich von Euch selbst bestimmt und somit ebenso eine Illusion. Selbst die Unterteilung der Elemente ist nicht ganz das, als was sie Euch erscheint. Und ihr vermeintlicher Charakter beginnt ebenfalls zu schwinden, wird er doch im wesentlichen von Euch selbst mitbestimmt. Ein Element jedoch hat keinen festgelegten Charakter. Es ist weder gut noch schlecht. Und die Eigenschaften selbst beginnen damit, sich aufzulösen. Jedwede Trennung schwindet somit dahin.

All dies führt direkt auf den letzten Aspekt hin. Es stellt die Verbindung des magischen Daseins mit der stofflichen Welt dar. In diesem Stadium erkennt Ihr, daß jede Gegenströmung der einzelnen Aspekte auch zugleich deren Antrieb ist: Keine Sicherheit ohne Gefahr, keine Gewissheit ohne Zweifel, kein Schatten ohne Licht - keine Einsicht, ohne Illusion. Erst indem wir die gegenläufigen Strömungen in uns selbst zu erkennen lernen und sie annehmen, können wir beginnen, sie zu überwinden.
Und doch existiert all das ohne eine scharfe Trennung. Vielmehr sind es Aspekte voneinander und gehören untrennbar zu einem einzigen, einheitlichen Ganzen. Das ist der Urbegriff der Harmonie, nach der wir auch in unserem alltäglichen Wirken streben. Nur wenn wir uns loslösen von Besitzstreben und anderen allzu weltlichen Bindungen und Vorstellungen, können wir diesen Zustand erreichen. Von dem Moment an werdet Ihr intuitiv und Euer Wirken wird vollkommen sein.", die letzten Worte hauchte er fast andächtig.
Wieder folgte Schweigen.
Die Sonne stand bereits tiefer im Westen und von Osten her schoben sich feine Wolkenbahnen über das Meer heran, doch war die Wärme des Tages davon noch ungetrübt. Wu'feiniel hörte den Grauelfen neben sich aufstehen, nur löste sie ihren Blick nicht von der Ferne.
"Ihr seht, Euer Pfad mag noch weitestgehend vor Euch verborgen liegen, doch werden Euch diese Schritte dabei helfen, zu Euch selbst und schließlich zu einer höheren Wahrheit zu finden. Übt Euch stetig in jedem von ihnen, beginnend am Anfang und zustrebend auf die höchste der Formen.
Und mehr werde ich Euch heute nicht lehren, gwathel.
atenio a no beleg i 'olw nîn.", mit diesen Worten, die ein alter Gruß eines Lehrers an seine Schülerin waren, entfernte er sich.

"Sei Deine Weisheit groß..."
ThemaAutorAngesehenDatum/Zeit

Buch I, Kap. 2, Teil 2 - Von den Aspekten

Wu'feiniel Rodwen49323. März 2013 01:09

Buch I, Kap. 2, Teil 3 - Von den Elementen

Wu'feiniel Rodwen31223. März 2013 01:10

i lind en naeg (Melodie des Schmerzes)

Wu'feiniel Rodwen36623. März 2013 01:10

Buch I, Kap. 3, Teil 1 - o angol an o emlyg (Von Magie und von Drachen)

Wu'feiniel Rodwen31605. Juli 2013 10:47



Aktive Teilnehmer


9 : 0 9 Gäste