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Das Ende - Teil II - Das Tor (Erzählung)

Jelinea Manisz
22. April 2012 17:35
Die Bäume schrien. Sie weinten und klagten in Todesqualen und Jelineas Geist war bis in den hintersten Winkel mit ihren schmerzverzerrten Stimmen erfüllt. Denken war unter diesen Umständen ein Ding der Unmöglichkeit, aber das durfte es gerade jetzt nicht sein! Gerade jetzt nicht, nicht in diesem Moment, in dem ihre geliebte Tochter vor ihr her durch die Hölle lief, gerade jetzt nicht, wo alles, was zu ihrem Leben geworden war, in Trümmern lag und es nur noch eines zu tun galt. Ma Jaya zu retten. Sie nahm alle Kraft zusammen, mit dieser ganzen unbändigen Macht, die eine Mutter erfüllt, wenn ihr Kind in Gefahr ist und schob die Schreie, die Qual und die Verzweiflung vehement beiseite, bis eine Lücke entstand, ein kleiner Raum, in dem Denken wieder möglich wurde. Und wie sie dachte! In fieberhafter Eile schossen ihr die Überlegungen durch den Kopf. Würden sie es rechtzeitig zur Quelle der singenden Windgeister schaffen? Welches der Portale würde sie zu einem sicheren Ort führen? Welcher Ort war sicher? Jelinea sank der Mut. Sie befand sich hier im verborgensten Winkel der Welt, im Silberwald der Lichtelfen. Dies hier war der sicherste Ort gewesen, den sie jemals gekannt hatte. Es gab keinen sicheren Ort mehr. Dennoch, die Quelle schien die einzige Möglichkeit zu sein, aus diesem Inferno zu entkommen, Ma Jaya in Sicherheit zu... da plötzlich durchzuckte sie eine Erkenntnis. Es gab keinen anderen Weg hierher. Keinen außer den Portalen bei der Quelle. Das bedeutete aber auch, dass die Orks von dort gekommen sein mussten. Natürlich! Es durchfuhr sie wie ein physischer Schock. Und einige von ihnen waren sicher noch dort. Der Fluchtweg war eine Sackgasse. Ihre Beine stemmten sich wie von selbst gegen den weichen Waldboden, und geboten so ihrem Lauf Einhalt. Von ihren Lippen löste sich ein gellender Schrei.

„Maaa Jaaayaaa!! Komm zurück!“

Ihre Gedanken rasten. Der Brief an Palila kam ihr in den Sinn, den sie noch bei sich trug. Sie hatte es noch nicht geschafft, ihn mit einer ihrer weißen Tauben loszuschicken und nun war es ohnehin zu spät. Palila würde also in einigen Tagen bei ihrem verabredeten Treffpunkt erscheinen. Das war es, dorthin musste sie Ma Jaya schicken!

‚Oh, Layantea! Steh mir bei!‘ Ihre Hände zitterten, doch ohne dass sie groß darüber hätte nachdenken müssen, griff sie schon in ihren Beutel, fand sie schon die richtigen Kräuter, die richtigen Steine und begann sie auf genau die richtige Art und Weise anzuordnen, so wie sie es gelernt hatte, um das Ritual auszuführen. Es war nicht genug Zeit dafür, das wusste Jelinea. Doch es gab keinen Ausweg. Obwohl die Schreie der brennenden Bäume immer noch ihre ganze Seele erfüllten, arbeitete sie in fieberhafter Eile. Obwohl hinter ihr die Verfolger aufholten, obwohl Ma Jaya noch gar nicht bei ihr war, obwohl es so gut wie keine Hoffnung gab, sammelte sie all ihre Konzentration. Der Rauch füllte nun auch ihre Lungen, und sie musste husten, als sie mit dunkler Stimme begann die rituellen Worte zu singen.

"Fels breche auf, Wasser sprudle hervor,
beim Namen der Mutter erhöre mich hier,
Wind frische auf und entfache die Flamme,
in Layanteas Namen, so ruf ich nach dir,
Kräfte des Lebens, des Hellen Mondes Macht,
Fahrt in mich, erfüllt mich, gehorcht nun mir !"

Sie steigerte die Lautstärke ihrer Stimme immer weiter, bis sie beinahe ein Schrei war.

„Layantea, höre mich an!
Beim hellen Mond, höre mich an!
Gib mir die Kraft, öffne das Tor!
Bei Kelch und Kröte, höre mich an!
Gib mir die Kraft, öffne das Tor!
Hilf deiner Dienerin in ihrer dunkelsten Stunde!“

Langsam begannen die Steine, die im Kreis an den Ecken eines imaginären Pentagramms angeordnet waren zu schimmern. Jelinea nahm es kaum wahr. Eigentlich nahm sie gerade gar nichts wahr, außer einem stetigen Fluss in ihrem Innern, einem Fluss der Macht. Dieser Fluss hatte viele Quellen, die größte davon war die Erde unter Jelineas Füßen, doch auch die Luft, die Bäume, die Steine und das Feuer ihres eigenen Herzens bildeten kleine Flüsschen, die sich dem großen Strom anschlossen. All diese Energie musste sie bündeln, musste sie zusammen führen und wie durch ein Nadelöhr pressen, und das in Sekundenschnelle, ohne dass dabei auch nur der geringste Fehler geschehen durfte. Die zwischen den Ecksteinen angerichteten Kräuterbüschel entflammten nun, wie von selbst, eins nach dem anderen. Das Glimmen der Edelsteine wurde stärker, verwandelte sich in ein helles Leuchten, als flackerten züngelnde Flammen in ihrem Inneren. Dann begann im Rauch eine Form zu entstehen, ein dünnes, leuchtendes Gebilde, einem Torbogen gleich. Je stärker sich Jelinea konzentrierte, desto klarer wurde die Form, desto heller das Leuchten. Schließlich war sie vollkommen, war eine Öffnung, mitten im brennenden Wald.

„Mutter!“ Erklang in diesem Moment die atemlose, panische Stimme ihrer Tochter. „Bei Nurda und Zerzal, was tust du da? Sie können jeden Moment hier sein, wir müssen doch zur Quelle! Was tust du denn nur hier? Mutter, so komm doch! Wir müssen fliehen!“
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