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Das Ende - Teil V - Im Innersten gebrochen (Erzählung)

Ma Jaya Manisz
28. April 2012 21:38
„Mama! Mutter!!“ Ihre helle Stimme überschlug sich, als sie eilig von dem knorrigen Baum herunter kletterte und begann, die Felswand herabzusteigen. „Ya'nurti! Yaaaaa'nuuuuurtiiiiii!“ Wie das klagende Wehgeschrei des Windes in einer tiefen Schlucht, wehte ihr Ruf durch die Lüfte.

Um nicht erneut abzustürzen, wandte sich Ma Jaya nach rechts, dorthin, wo das Felsgestein weniger steil abfiel. Ihre leichtfüßigen, geschmeidigen Bewegungen waren hektisch, wie die eines vor dem Jäger flüchtenden Rehs. Unablässig suchten die von Panik erfüllten Augen ihre Umgebung ab, als könne hinter jedem Stein und jedem Busch ein Ungeheuer auf sie lauern, unablässig bewegten sich ihre Lippen, mal murmelnd, mal schreiend. „Oh Mutter, oh, Mutter… wo bist du?! MAMA!!! Oh Layantea, steh mir bei, hilf mir! YA’NURTI! Bei Nurda und Zerzal…wo bist du nur?“ Da blieb ihr suchender Blick an etwas braunem hängen, das sich unweit von ihr in einem dornigen Busch verheddert hatte. Es war der Lederbeutel ihrer Mutter. Ma Jaya musste ihn losgelassen haben, als sie gegen die Felswand geprallt war. Ein winziges, völlig irrationales Hoffnungsgefühl stieg in ihr auf, als bedeute dieser Fund, dass ihre Mutter ganz in ihrer Nähe wäre, dass sie gleich hinter dem nächsten Baum hervortreten würde, um sie, Ma Jaya, mit ihrem liebevollen Lächeln in die Arme zu schließen.

Das Kratzen und Reißen der spitzen, holzigen Dornen missachtend, griff sie ohne Zögern in den Busch hinein und zerrte an dem Beutel, der sich widerspenstig löste. Prüfend betrachtete sie die Tasche, fuhr mit den Fingern über die verstärkten Nähte, über das weiche Leder und die kunstvoll gearbeiteten Verschlüsse. Alles hatte den Sturz unbeschadet überstanden. Ma Jaya presste den verbeulten Ledersack fest an sich, war beinah glücklich für einen kurzen Moment und rannte dann mit frischem Mut weiter den Abhang hinunter.

Sie erreichte bald den Fuß des Berges und wandte sich wieder nach links, um in die tiefe Schlucht zu gelangen, in die sie gestürzt wäre, hätte die Kiefer sie nicht aufgefangen. Bevor sie den Kadaver sah, roch sie ihn schon. Die Luft dort unten war von einem schweren, fauligen Geruch geschwängert, ranziger Fettgestank mischte sich darin mit modrigem Schimmel, Blut und vergammelten Fräkalien. Die Quelle dieses atemraubenden Gestanks war der herabgestürzte Ork, dessen Leiche wie ein Berg undefinierbaren Materials platt auf dem Rücken lag und den Odem der Unterwelt verströmte. Er war mit seinem riesigen Schädel genau auf einer scharfen Steinkante aufgeschlagen, so dass ihm dieser vom oberen Hinterkopf ausgehend glatt in zwei Hälften gespalten worden war.

Als Ma Jaya ihn entdeckte, dreht sich ihr der Magen um und sie musste sich übergeben. Keuchend und würgend rang sie zusammengekauert neben einem trockenen Busch um ihre Fassung. Die Hoffnung, die ihr gerade noch den Mut zum Weiterlaufen gegeben hatte, war auf einen winzigen Funken zusammengeschrumpft, der jeden Augenblick verlöschen konnte. Zitternd ballte sie die Hände zu schmalen Fäusten und versuchte sich innerlich gewaltsam zusammen zu halten, ihre Einzelteile fest zusammen zu schnüren, um nicht überwältigt zu werden von dem grausigen Bild. Dann stand sie auf, schob sich den Lederbeutel auf ihre Schulter, biss die Zähne zusammen und näherte sich dem Berg fauligen Fleischs Schritt für Schritt. Sie konzentrierte sich auf die Details, versuchte nicht, sie zu einem Gesamtbild zusammen zu fügen, versuchte, nichts zu denken und nichts zu fühlen.

Ein vom Aufprall geplatzter Kampfstiefel aus schuppenbesetztem Leder, aus dem schwarz behaarte Zehen schmutzverkrustet hervorschauten. Eine blutige Kriegsaxt, deren eine Seite tief im Erdboden steckte. Ein riesiges Trinkhorn, entzweigesprungen, die eine Hälfte baumelte noch am Gürtel, der fest um den massigen Leib gewunden war. Eine große Lache dunklen Bluts, auf der sich grün und blau schimmernde Fliegen tummelten... Ma Jaya würgte. In den vierzehn Sommern, die ihr Leben zählte, hatte sie noch niemals etwas so abstoßendes gesehen. „Nein, nein“ wimmerte sie. „Was ist das? Mama, wo bist du? Was mache ich hier?“ Ungehört verklang ihre Stimme und nur ihr selbst hervor gestoßener Atem schien darauf zu antworten. Sie riss sich wieder zusammen. Konzentrierte sich wieder auf Ausschnitte, auf einzelne Bilder. Eine Rüstung, mit abgeschnittenen Haarskalps besetzt. Die von ihr abgewandte Seite schien von irgendetwas schwarz verkohlt worden zu sein, das konnte sie nun deutlich sehen. Die Verbrennung zog sich bis über sein Gesicht hin. Das halbe Gesicht... schnell wandte Ma Jaya ihren Blick davon ab. Die massige, dunkel behaarte Pranke, weit vom Körper gestreckt. In ihr, mit selbst im Tode festen Griff, hielt er ein dickes Büschel... rotbraunen, lockigen Menschenhaares.

Die eisige Klaue der von Schock gefolgten Erkenntnis zerriss Ma Jaya innerhalb eines Herzschlages. Sie stand wie angewurzelt, dass Gesicht eine in Stein gemeißelte Maske des Grauens. Sie konnte nichts mehr hören, nur so ein seltsames Summen erfüllte ihren Kopf und die Welt vor ihren Augen verfärbte sich rot, dann wurde alles dunkel, rabenschwarz, dann wieder rot, tiefrot, blutrot, die Welt kippte ihr entgegen. Sie fand sich schreiend am Boden wieder, die Fäuste fest gegen die Schläfen gepresst. Das hieß, sie fühlte sich schreien, fühlte die Luft mit unbändiger Macht durch die Kehle entweichen und die Vibration ihrer Stimmbänder, das reißende Gefühl in ihrem Hals, doch sie hörte keine Stimme, hörte nur pfeifenden Atem. Dennoch konnte sie nicht aufhören, es war wie ein Krampf, stumm und verzweifelt schrie sie, schrie und wälzte sich am Boden, die Finger tief in den Haaren vergraben, schrie, bis ihr schwindelig war, bis ihr die Luft zum Atmen fehlte und ihr kleine dunkle Flecken vor den Augen zu tanzen begannen.

Als der Schrei endete, wurde sie von einer Welle rasender Wut erfasst. Schwankend rappelte sie sich auf, heftig nach Luft schnappend, taumelte mit weitaufgerissenen Augen durch die immer noch rot gefärbte Welt, bis sie bei der Pranke war. Wie ein wildes Tier knurrend stürzte sie sich auf die wulstigen graubraunen, dicht behaarten Finger, zerrte und riss, grub und biss, ohne auf den widerlichen Geschmack und Geruch zu achten, bis sie den blutigen Skalp ihrer Mutter aus ihnen befreit hatte. Dann brach sie weinend zusammen. Sie drückte das tote Haar an ihre Brust und schluchzte. Ihr Körper war nun ein einziger Schmerz. In den aufgeschürften Armen und Beinen brannten Dreck und Schweiß, die Prellungen und Schnittwunden, die Kratzer und Zerrungen klopften und pochten alle gleichzeitig und ihr entzwei gerissenes Herz fiel unaufhörlich in den bodenlosen Abgrund, der sich mitten in ihr geöffnet hatte..

Eine lange Zeit lag Ma Jaya dort zusammen gekrümmt am Boden neben dem Ork, als ein kleiner, zuckender Haufen neben dem großen, reglosen. Das Gesicht verbarg sie im Haar ihrer Mutter, das von Blut und Tränen ganz durchnässt war. Kein Laut drang aus ihrer Kehle, Schluchzen und Weinen und Wimmern schüttelten sie lautlos durch. Die ganze Nacht lag sie dort, nicht schlafend, nicht wachend, gefangen in diesem bösen Traum, der ihre Wirklichkeit geworden war.

Ein früher Sonnenstrahl, der sich zwischen den Zweigen der Bäume verirrt hatte, traf Ma Jayas Gesicht und sie blinzelte. Wie eine Schlafwandlerin richtete sie sich auf und sah sich um. Reglos betrachtete sie den toten Ork neben sich. Verkrampfte leicht die Hand, in der sie Jelineas Haarbüschel hielt, doch verzog keine Miene. Mit eckigen, ungelenken Bewegungen erhob sie sich. Tastete nach dem neben ihr liegenden Lederbeutel und zog ein scharfes Messer daraus hervor. Eine unheimliche, zielstrebige Ruhe ausstrahlend, kletterte sie auf den faulig stinkenden Fleischberg neben sich, ganze Fliegenschwärme dabei aufscheuchend. Ohne mit der Wimper zu zucken, beugte sie sich über den gespaltenen Schädel, über das grausige zweigeteilte Grinsen seines weit aufklaffenden Mauls. Hockte da auf der massiven Brust und begann mit ruhigen Händen einen der großen Hauer aus seinem Mund zu schneiden. Sägte, ruckte und riß und hielt den langen gelben Zahn schließlich in ihrer Hand. Sprang dann hinunter von dem Ungeheuer, wischte Messer und Zahn an einem Grasbüschel ab und stopfte sie achtlos in den Beutel. Verschloss ihn gut, warf ihn sich über die Schulter und ging mit ruhigen Schritten von dannen, ohne sich noch einmal umzusehen, hinein in den schützenden, hellen Wald.
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